Magisterarbeit
Titel: "Politisch motivierter Tourismus: Aspekte und Dimensionen des politischen Reisens - Mit einer Feldstudie zum gewerkschaftlichen Brigadetourismus der IG-Metall-Jugend"
von Thomas Erling
Halle (Saale), 24. Oktober 2010
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"Politisch motivierter Tourismus: Aspekte und Dimensionen des politischen Reisens"
Einleitung
Tourismus und Politik – auf den ersten Blick zwei Begriffe, deren übliche Konnotationen scheinbar nicht ohne Weiteres zusammenzuführen sind, es sei denn, man versteht unter ihrem Konnex jene politischen Belange, die den Tourismus bzw. eine Tourismusindustrie betreffen und somit der sogenannten Tourismuspolitik zuzuordnen sind.
Doch kann touristische Praxis selbst politisch sein bzw. kann politische Praxis in touristische Praxis übersetzt werden, wie es der Titel dieser Arbeit vorgibt? So wird der Tourismus-Begriff oft ausschließlich in Verbindung gebracht mit Hotels, Strand und Palmen – letztlich mit Urlaub. Und Politik, das ist eine ernste Angelegenheit, die wohl überhaupt nichts mit Entspannung oder gar Freude zu tun hat. Politik, das sind nach Ansicht vieler die öffentlichen Geschäfte, deren Ausübung eine Bürde und Last darstellt, keinesfalls aber Freude bedeutet (vgl. Marchart 2007: 355). Doch entsprechen diese, beide Praktiken klar eingrenzenden Assoziationen bzw. Definitionen eben nur teilweise der Realität, denn: Definitionen laufen immer wieder Gefahr, die Wiedergabe einer Realität über die Definienden zu verfehlen (vgl. Robinson 1950: 6). Tatsächlich bedeutet Tourismus mehr als nur das 'Herumliegen' an Stränden. Und politische Praxis kann gleichsam mehr sein, als in kargen Amtszimmern zu sitzen und Gesetzestexte zu verfassen.
In den letzten Jahren bekam ich mehrmals die Gelegenheit, solche Gruppenreisen zu begleiten, deren reisende Akteure getrieben waren von politischen Motiven. Hier waren Menschen unterwegs in andere Städte oder gar ferne Länder, weil sie politisch waren und weil die Destinationen im Zuge ihrer unternommenen Reisen zu Orten ihrer politischen Praxis avancierten. Ob zu einem Sozialforum nach Istanbul, zu einem G8-Gipfelprotest nach Heiligendamm oder in ein Land, in dem gerade eine Revolution stattfand – Orte, die mit einer bestimmten Form politischer Praxis in Zusammenhang standen, wurden so zu ausgemachten Tourismuszielen für unzählige politisch interessierte und politisch aktive Menschen. Letztlich veranlassten mich die Erlebnisse und Beobachtungen, die ich im Zuge dieser Reisen erfahren und unternehmen durfte, zu einer tiefer gehenden und dementsprechend tourismuswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser besonderen Form politischer oder eben touristischer Praxis.
Die Wissenschaft der Anthropologie, in der die hier vorgelegte Studie methodisch verortet wird, beschäftigt sich nun schon seit einigen Jahrzehnten mit dem Tourismus und es steht für die meisten Anthropologen, die sich mit diesem speziellen Feld auseinandersetzen, heute fest, dass es sich beim Tourismusphänomen um ein ausgesprochen komplexes soziales Phänomen Politisch motivierter Tourismus: Aspekte und Dimensionen des politischen Reisens der meisten Gesellschaften handelt. So sind die Motive, die den Menschen zum Reisen im globalen Raum veranlassen, gleichsam vielschichtig und führen zu den unterschiedlichsten Ausformungen und Typen von Reisepraxis.
In dieser Arbeit zum politisch motivierten Tourismus soll es schließlich darum gehen, die unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Erkenntnisse, die sich aus der Breite des Tourismusphänomens und dem interdisziplinären Charakter der Tourismuswissenschaften ergeben, auf die von mir als politisch erachteten Formen menschlicher Reisepraxis zu übertragen. In der tourismuswissenschaftlichen Forschung wird das Tourismusphänomen immer wieder mit spezifischen Bedürfnissen des Menschen erklärt, wie z.B. dem Wunsch nach Ausbruch aus der Alltagswelt, nach sensationellen Erfahrungen oder der Sehnsucht nach authentischen Gegenwelten. Letztlich soll im Folgenden auch nach den Bedürfnissen des politisch motivierten Touristen geforscht werden, wobei davon ausgegangen wird, dass sich die Bedürfnisse des 'normalen' Touristen nicht grundsätzlich von denen des politisch motivierten Touristen unterscheiden. Daraus wiederum ergibt sich eine dieser Arbeit zugrunde liegende Kernthese, die wie folgt formuliert werden kann:
'Typisch' touristische Bedürfnisse, wie beispielsweise das Bedürfnis nach nicht alltäglichen Erfahrungen, nach sensationellen oder authentischen Erlebnismomenten, nach Abenteuer oder nach Gegenwelterlebnissen werden auch im Zuge des politisch motivierten Tourismus befriedigt. Die Bedürfnisbefriedigung ergibt sich hier aber explizit und direkt aus einer politischen Kommunikation bzw. Praxis oder aus einem politischen Anspruch des Akteurs. Um diese These schließlich zu bestätigen und um dem Leser gleichsam ein umfassendes Bild des politisch motivierten Tourismus zu zeichnen, wird wie folgt vorgegangen: Im ersten Teil der Arbeit wird nach den theoretischen Grundlagen des politisch motivierten Tourismus geforscht und es werden grundlegende Begriffe geklärt, um diese für die anschließenden Betrachtungen zum Phänomen nutzbar zu machen. So wird danach gefragt, was der Tourismus für die Gesellschaften der Gegenwart bedeutet und wie das Phänomen alltags- und wissenschaftsweltlich bewertet wird und bewertet werden kann. Am Ende dieser allgemeinen Ausführungen soll eine eindeutige Definition des Tourismus stehen, die als das theoretische Fundament für die Untersuchungen zum politisch motivierten Tourismus zu verstehen ist. Anschließend wird dazu übergegangen, auf der Basis der Ergebnisse einer Recherche nach den unterschiedlichen Formen des politisch motivierten Tourismus und mithilfe politikwissenschaftlicher Theoriebildung eine Definition des Spezialphänomens zu Politisch motivierter Tourismus: Aspekte und Dimensionen des politischen Reisens formulieren, die es schließlich erlaubt, alle existierenden Typen der politischen Reisepraxis in einem theoretischen Rahmen zu fassen und zu kategorisieren. Den allgemeinen theoretischen Betrachtungen zum Phänomen folgt eine rein exemplarische.
So werden am Ende des ersten Hauptteils der Arbeit Ergebnisse der Recherche nach den Formen des politisch motivierten Tourismus präsentiert, die im Einzelnen politischtouristische Reisepraktiken darstellen, welche wiederum den zuvor ermittelten Kategorien des Phänomens zugeordnet werden können. Ziel des ersten Hauptteils ist schließlich, ein grundlegendes Verständnis für die funktionale Vielschichtigkeit und den Formenreichtum des politisch motivierten Tourismus zu vermitteln und dementsprechend den Blick für die tatsächliche Spannweite des Phänomens zu ermöglichen.
Der zweite Hauptteil der Arbeit wird sich auf der Grundlage einer anthropologischen Feldforschung mit einer sehr speziellen Form des politisch motivierten Tourismus auseinandersetzen – namentlich mit dem Solidaritätstourismus in Lateinamerika bzw. mit dem gewerkschaftlichen Brigade-Tourismus der IG Metall-Jugend. Es werden unter Bezugnahme auf das während der Forschung gesammelte Datenmaterial Interpretationen angestellt, die es schließlich ermöglichen sollen, einen Einblick in eine besondere Form kontemporärer Reisepraxis zu nehmen. Dabei wird es vor allem um die Darstellung der persönlichen Reisemotive der Akteure gehen. Unterschiedliche Aspekte wie beispielsweise die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Reisenden im bereisten Land oder auch die spezifischen politischen Ambitionen und deren Umsetzung in politisch-touristische Praxis sollen beispielorientiert herausgearbeitet werden. Am Ende der Arbeit sollte es gelungen sein, Erkenntnisse und Einsichten geliefert zu haben, die den Konnex zwischen politischer und touristischer Praxis verstehen lassen und damit zu einem Verständnis für die soziale Breite des Phänomens des politisch motivierten Tourismus führen.
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