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Konzept der Studie
4. Relevanz des angestrebten Erkenntnisgewinns
Wie die meisten Kulturphänomene unserer Zeit, ist auch das politische System von zunehmender Entgrenzung durch immer zugänglichere und sich rasend entwickelnde Kommunikations- und Medientechnik, aber auch durch die technische Erleichterung von Reisebewegungen betroffen. Der Politikwissenschaftler Klaus-Gerd Giesen sieht vorrangig diese Entwicklungen als Grund bzw. Gelegenheit für eine grenzüberschreitende Verbreitung von politischen Ideen. Er schreibt, man gehe heutzutage davon aus, dass Ideologien praktisch sofort eine internationale, wenn nicht gar weltweite Präsenz erlangen. Schließlich leben wir im Kommunikationszeitalter, in dem es für Ideensysteme kaum noch Hindernisse im grenzüberschreitenden Verkehr gibt.1 Das hat zur Folge, dass der Mensch dazu befähigt wird, auch weltweit nach politischen Ideen Ausschau zu halten, die eine Alternative zu dem darstellen, was durch ihn im weltweiten politischen System bzw. im eigenen politischen Subsystem als unbefriedigend bzw. fehlerhaft wahrgenommen wird.
Gerade in Zeiten einer hysterisch geführten Diskussion um eine oft als infernalisch erachtete Krise des kontemporären westlichen Wirtschaftssystems gewinnt die Möglichkeit der nahezu grenzenlosen Informationsaneignung bzw. die immer leichter zu realisierende persönliche Präsenz in als divergierend angesehenen politischen Subsystemen an Bedeutung.
So wie sich in den 70er Jahren (in einer Zeit, in der die Wohlstandsgesellschaft des westlichen Nachkriegsdeutschlands, dessen Wirtschaft einzig auf Wachstum getrimmt war, erstmalig an ihre Grenzen stieß) sogenannte Solidaritätsbrigaden in die ihrer Ansicht nach Hoffnung weckenden sozialistischen Länder Lateinamerikas, wie Nicaragua oder Kuba bewegten, um nach Alternativen zum besagten versagenden westlichen Wirtschaftssystem Ausschau zu halten und diese am eigenen Leibe zu erfahren, so begeben sich auch heute wieder – in Zeiten einer neuen Krise, die als Nachfahre der vorherigen westlichen Wirtschaftskrisen bezeichnet werden darf – junge Idealisten auf den Weg, um Erfahrungen zu sammeln, die eine Alternative zu dem darstellen, was eine derartige Krise erneut auslöste. Und auch heute spielen dabei wieder – oder vielmehr immer noch – die Länder Lateinamerikas eine wichtige Rolle, so, als sollte die Bezeichnung „Neue Welt“ seit ihrer Entdeckung als Garant dafür stehen, tatsächlich neue Welten entdecken zu können.
Doch haben sich diese neuen politischen Reisebewegungen im Vergleich zu ihren Vorfahren signifikant weiterentwickelt – gleichsam zu einem großen Teil den modernen Kommunikationstechniken und den erleichterten Reisemöglichkeiten geschuldet.
Während die politischen Reisen nach Lateinamerika der 60er und 70er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts einer weitestgehend kleinen gewerkschaftlich organisierten und/oder akademischen Gruppe von politisch Engagierten vorbehalten blieb und die Akteure nicht darüber hinaus gingen oder gehen konnten, ihre gemachten (politischen) Erfahrungen in heimischen Gefilden ebenfalls einer nur kleinen Gruppe von Gleichgesinnten zu präsentieren, machen es die modernen Kommunikationsmittel (u.a. beispielsweise das Web 2.0) den politisch Reisenden der Gegenwart möglich, die eigenen in „fremden politischen Welten“ akkumulierten Kognitionen sozusagen in Echtzeit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sie so direkt in die öffentliche Debatte bzw. in ein öffentliches (mediales) Bewusstsein einzuleiten. Zudem ermöglichen es die von den „Elterngenerationen“ errungen politischen Freiräume und die damit einhergehende Stärkung der Zivilgesellschaft, die gemachten Erfahrungen und gesammelten Ideen in eine politische Realität im Heimatland zu überführen. So entstehen politische Netzwerke (beispielsweise in Form von NGOs), welche – über schnelle Informationsweitergabe und die Nutzung der Möglichkeiten, die eine demokratische Gesellschaft zur individuellen politischen Betätigung bietet – „alternative Politkstile“ zu konstruieren, diese in die politische Debatte einzubringen und im besten Falle einen politischen Transformationsprozess in Gang zu bringen. So zumindest die theoretische Annahme, auf der die angestrebte Studie basiert.
Nun wird in vielen Lateinamerikanischen Ländern – wie beispielsweise in Bolivien und Venezuela – von deren Regierungen eine anti-neoliberale bzw. antikapitalistische Politik betrieben, die gerade für linkspolitisch Reisende die Gegenentwürfe bereitzustellen vermag, die nach ihrer Meinung von Nutzen sein können, um den durch Kapitalismus und Neoliberalismus hervorgerufenen (Wirtschafts-)Krisen und „wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten“ politisch entgegenzuwirken. Zudem werden in einigen revolutionären Bewegungen – wie beispielsweise im Zapatismus – solche Politikmodelle probiert, die einem basisdemokratischen Ideal entsprechen (sollen). So vermögen hier gemachte Erfahrungen gleichsam Lösungsmöglichkeiten für einen von vielen so empfunden Demokratieverlust in den westlichen Ländern – ihrer Meinung nach ebenfalls hervorgerufen durch das kapitalistische Wirtschaftssystem – bereitzustellen, deren Überführung in die heimische Lebensrealität ihrer Ansicht nach erstrebenswert ist.
So soll die angestrebte Studie auch darauf Antwort geben, inwieweit tatsächlich politische Transformationsprozesse im Heimatland und auf globaler Ebene auf Basis von politischen Reisen in Gang gebracht werden (können). Bestehen diese Bedürfnisse einer Implementierung überhaupt und wenn ja, inwieweit ist diese tatsächlich realisierbar bzw. wo und wie wird sie realisiert? Haben die Erlebnisse privat politisch Reisender in summa Einfluss auf eine reale Politiklandschaft oder gehen die durch sie hervorgerufenen Transformationen vielleicht gar nicht über eine Anpassung des persönlichen Lebensstils des Reisenden hinaus?
Die in einer Zeit von Wirtschaftskrisen und von vielen so empfundenen Demokratieverlust relevanten Fragen können dementsprechend und zusammenfassend so formuliert werden:
a. Wie verwerten politisch Reisende ihre im Zuge eines politischen Tourismus gesammelten Erfahrungen nach Rückkehr im Heimatland?
b. Wie wandelt sich der persönliche Lebensstil dieser nach so einer Reise?
c. Wird versucht, mit den „mitgebrachten Ideen“ einen politischen Transformationsprozess in Gang zu setzen, der es vermag, als fehlerhaft empfundene Wirtschafts- und Politikentwicklungen zu korrigieren – und wenn ja, wie?
Nun besteht natürlich auch Relevanz der geplanten Untersuchungen für die Gesellschaften in den Reiseländern. Oft befinden sich diese Länder in einem Zustand sozialer Kämpfe und politischer Unruhe. Zudem werden einige Länder, allen voran Venezuela und Kuba, von der Weltgemeinschaft als antidemokratisch stigmatisiert – eine Tatsache, die den Empfindungen vieler politisch Reisender offensichtlich widerspricht. So sehen Menschen, die sich einer internationalen Linken zugehörig fühlen beispielsweise in der Politikentwicklung Venezuelas, die mit dem Vorgang der Bolivarianischen Revolution bezeichnet werden kann, oft eine durchaus demokratische Entwicklung des Landes. Für die Reiseländer, die am äußeren Rand der Weltgemeinschaft als weitestgehend desintegriert stehen, bedeutet dieses Interesse und die daraus hervorgehende sogenannte internationale Solidarität eine Möglichkeit, sich durch eine „Hintertür“ in die Weltgemeinschaft zu reintegrieren. Man schafft sich dementsprechend eine „eigene“ Weltgemeinschaft, die in einer Opposition zur „etablierten Weltgemeinschaft“ gesehen werden kann. Die für die Reisenden so empfundene politische Gegenwelt wird dabei bestätigt. So zumindest die theoretische Annahme, auf der die angestrebte Studie basiert.
Im Zuge der geplanten Untersuchungen, soll nun auch herausgefunden werden, wie diese Theorie in der Praxis bestätigt wird. Wie fördern also die Gastgeberländer, in denen beispielsweise eine revolutionäre Politik zur offiziellen Regierungspolitik gehört, einen internationalen politischen Tourismus, um sich eine breite Unterstützerbasis auf internationaler Ebene zu sichern und vor allem, was sind dabei die realen Hauptbeweggründe?
Es ist anzunehmen, dass im Zuge einer politischen Reise durchaus Widersprüche zwischen den Erwartungen der Reisenden auf die Kognition einer positiv-politischen Gegenwelterfahrung und den tatsächlich vorgefundenen politischen Realitäten hervortreten. Die Frage ist nun, wie die „Besuchten“ auf solche Widersprüche reagieren. Wie wird also letztlich eine politische Realität vielleicht so angepasst, dass sie sich einerseits nicht selbst negiert, andererseits aber den Erwartungen der Reisenden entspricht? Hier soll es vor allem um die Präsentationsstrategien, die eigene Imagebildung der Gastgeber und deren Wirkungen gehen.
Zudem kann angenommen werden, dass die Präsenz von „internationalen Gästen“ auch einen realen Transformationsprozess in Gang setzen kann, der sich auf die Politiklandschaft des Gastgeberlandes bezieht. So wird dementsprechend herauszufinden sein, inwieweit politische Kulturkontakte im Reiseland auch zu einer politischen Bewusstseinsanpassung unter den Gastgebern führen und inwieweit diese zur Anpassung von Politikstrategien beitragen.
Die relevanten Fragen in Bezug auf eine eventuelle Reintegration der Gastgeberländer in die Weltgemeinschaft bzw. auf die durch politischen Tourismus in diesen Ländern generierten politischen Transformationsprozesse können so zusammenfassend formuliert werden:
a. Betreiben und Fördern die Gastgeberländer eine Reintegration in die Weltgemeinschaft und wenn ja, wie?
b. Inwieweit findet eine Anpassung zwischen realer Politiklinie und den Erwartungen der politisch Reisenden statt und wie wird diese Konkret vollzogen?
c. Findet im Zuge politischer Kulturkontakte auch eine Transformation des politischen Bewusstseins im Gastgeberland statt und wenn ja, wie weit geht diese Transformation bzw. wie äußert sie sich im konkreten Fall?
1Aus „Ideologien in der Weltpolitik“ (vgl. Giesen 2004: 10)