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Konzept der Studie

Einleitung

 

Siguiendo la luz del sol dejamos el viejo mundo.“

Und dem Licht der Sonne folgend, verließen wir die alte Welt.“
(Christoph Kolumbus)


Bei diesem Zitat von Christoph Kolumbus handelt es sich um ein bemerkenswertes Bormot, das in semantisch ganz besonders prägnanter Weise das miteinander zu verbinden vermag, was die Gefühlswelt und die Antriebe eines Reisenden bestimmt, der sich aus seiner eigenen Lebenswelt hinaus bewegt, um unter großen Erwartungen etwas unbekanntes Neues zu Entdecken, das es wiederum schafft, das Bekannte um Erfahrungen materieller und sinnlicher Natur zu bereichern und dementsprechend die eigene Lebenswelt zu transformieren: es verbindet Sehnsucht, Ungewissheit, Entdeckungsdrang und Hoffnung.
Nun scheint es so, dass kontemporäre Reisebewegungen – in einer Zeit in der jeder Winkel der Erde entdeckt und erschlossen scheint und in der eine Tourismusindustrie und der sich aus ihr generierende Massentourismus das Reisen zu einer Art „Instantprodukt“ umformulierten – jede solche delphische Aura, die das Zitat Kolumbus´ umgibt, eingebüßt haben. Das „Zeitalter der Entdeckungen scheint ein für alle mal vorbei – sehen wir von einem neuen Explorationsimpetus unserer hochtechnisierten Gesellschaften gen Kosmos ab – und Bedürfnisse nach neuen Perzeptionen und nach Erfahrung des Anderen, die der Mensch gleichwohl auch heute noch in sich trägt, können nunmehrig über den Tourismus und seine Industrie leichter und zudem gefahrloser befriedigt werden. Gegenwelterlebnisse1, die die Reisen des Christoph Kolumbus in außerordentlich durchdringender Weise prägten, sind heute schlicht unkompliziert erwerbbare Güter – auch für diejenigen, die sich etwa auf schwierigere, aber dafür vermeintlich unverfälschte Backpacker-Pfade begeben: selbst sie finden sich am Ende allzu oft in einer gewerblich-touristischen Infrastruktur wieder, die ihnen ihre oft nur scheinbar authentischeren Impressionen von kulturellen Differenzen liefert und dementsprechend Fremdwelterlebnisse künstlich generiert.
Kurzum haben sich durch die Reduktion von Explorationsdestinationen, durch zunehmende technische Vernetzung geographisch entfernt voneinander liegender Lebenswelten und auch durch die Transformationen in den Arbeits- und Alltagswelten der Menschen der meisten Gesellschaften die Verwertungsweisen und Zwecke von Erlebnissen und Eindrücken, die sich aus der „analogen Bewegung“ des Menschen im globalen Raum ergeben, deutlich verändert.
Die Tourismuswissenschaft unterscheidet dementsprechend grob zwischen der Epoche der „Muss-motivierten Reisen“ bzw. der Reisen mit einer gewissen Zweckgebundenheit und der daran sich anschließenden Epoche der modernen Tourismusreisen bzw. der aus Freiheit und Freiwilligkeit geborenen Reisemotivationen2.
Dient das Reisen der Menschen der westlich geprägten Kulturen heute majorativ dem sich davon Bewegen, dem kurzfristigen Ausbruch aus gewohnter Arbeits- und Alltagswelt zum Zwecke der mentalen und körperlichen Regeneration, dienten Reisen vor dem Zeitalter der Industrialisierung und gleichsam vor der parallel dazu sich herausbildenden Tourismusindustrie vielmehr einem sich hin Bewegen – hin zu Geschäftigkeiten, Erkenntnissen und Kognitionen, mit denen es zu bewerkstelligen war, das Leben zu Hause zu transformieren und dementsprechend in materieller sowie in kultureller Hinsicht weiterzuentwickeln; namentlich beispielsweise zum Zweck von Bildung, Forschung, Handel, Religion, Entdeckung, Eroberung. Das Reisen glich dabei oft einer Bürde, einer Anstrengung, die es vielmehr zum Ziel hatte, die gewohnte heimische Lebenswelt in ihren verschiedenen Dimensionen anzupassen bzw. zu erweitern, als sie zu bestätigen.
Letzteres wiederum vollzieht nämlich der moderne Tourist in dem Moment, in dem er nach seinen Reisen in die eigene Lebenswelt zurückkehrt und sich reintigirert in die Strukturen, die ihn zu einem kurzfristigen Ausbruch aus selbigen „zwangen“. Oft geht das, was dieser von seinen Touren nach Hause mitbringt, nicht über Souvenirs und Fotos hinaus, die das zu konservieren versuchen, was ihm im Zuge seiner Reisebewegungen das Gefühl gab, einmal dem entkommen zu sein, das er als Alltagsöde oder gar persönliche Resignation und lebensweltliche Stagnation empfindet. Selbst kulturelle Horizonterweiterungen, die sich vielleicht aus dem modernen Kultur- und Bildungstourismus ergeben, ermöglichen es scheinbar nur selten, in einen Transformationsansatz zur Anpassung der heimischen Lebensrealität übersetzt zu werden. Definitorisch verknappt könnte also zusammenfassend von sich scheinbar aus einem historisch-kulturellen Kontext aufeinanderfolgend herausbildenden Reisetypen gesprochen werden: 1. Reisen der lebensweltlichen Transformation und 2. Reisen der lebensweltlichen Affirmation.

Nun existieren aber auch heute noch als nicht marginal anzusehende Reiseformen, die eher dem ersten Typus zugeordnet werden können – auch vor dem Hintergrund dieser allgemein anerkannten tourismuswissenschaftlichen Einschätzung der historischen Aufeinanderfolge beider.
Und genau hier setzt die angestrebte tourismusanthropologische Studie an, der dieses Exposé zur Erläuterung des Forschungsvorhabens vorangestellt wird.
Lange Zeit verhinderte die vornehmliche Konzentration der tourismuswissenschaftlichen Arbeit der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen auf die theoretische Durchdringung des Massentourismus als Phänomen der modernen Gesellschaften die Auseinandersetzung mit sich parallel und alternativ dazu entwickelnden Reisetypen. Zwar wurde sich beispielsweise nicht wenig mit Backpacker-Tourismus und dem sogenannten Projektetourismus beschäftigt, doch gingen die daraus resultierenden Arbeiten oft nicht über eine Feststellung der Existenz von Gemeinsamkeiten zum modernen Massentourismus hinaus. Am Ende wurden sie oft sogar theoretisch eingebunden in das System des modernen affirmativen Tourismus und ihre nicht selten signifikanten Unterschiede was die Motivationsstrukturen und die kulturelle Rückwirkung bzw. das Potential der Transformationswirkung betrifft, vernachlässigt.
Besonders eine spezielle Form eines Tourismus mit Transformationscharakter wurde lange Zeit trotz einer zunehmenden Relevanz für die kulturelle und politische Entwicklung der modernen Gesellschaften nahezu überhaupt nicht beachtet und dementsprechend nur wenig wissenschaftlich bearbeitet. Die Rede ist hier vom Phänomen des politisch motivierten Tourismus, dem schließlich die angestrebte tourismusanthropologische Studie gewidmet wird.

1"Die Vorstellung von einer qualitativ besseren Gegenwelt findet sich bereits im Alten Orient und in der hellenistischen Antike. Sie ist rückgebunden an das Gegenüber von einer geordneten und einer ungeordneten Welt. [...] Solche Vorstellungen speisen sich letztlich aus einer Defiziterfahrung des Menschen. Es gibt Kräfte, die das Leben unterstützen, und solche, die das Leben gefährden." (Bernd U. Schipper)

2vgl. Rieger 1982; 16