Globalisierungskritisches Reisen
als politisch motivierter Tourismus
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4 Globalisierungskritisches Reisen als politisch motivierter Tourismus
Bei den Beschreibungen der letzten beiden Beispiele zum dark tourism, sprich beim Revolutionstourismus zur Französischen Revolution und beim Kriegstourismus zum Spanischen Bürgerkrieg, trat eine bemerkenswerte Tatsache klar hervor – die internationale Ausrichtung dieser Formen des politisch motivierten Tourismus und dementsprechend auch das Überschreiten nationaler Grenzen durch die reisenden Akteure. Die politisch motivierten Touristen reisten aufgrund einer bestimmten politischen Überzeugung in fremde politische Einheiten, um Einfluss auf diese aber auch auf die jeweils eigene zu nehmen. Internationalität spielt auch in den nun folgenden Darstellungen zum globalisierungskritischen Reisen eine herausragende Rolle, bedeutet gewissermaßen dessen Grundeinheit.
Jana Binder stellt fest, dass es wohl kaum einen Begriff gebe, schon gar nicht im letzten Jahrzehnt, der so umfangreich diskutiert und angewendet wurde, wie der der Globalisierung. „Ob in Wissenschaft oder Alltag, 'Globalisierung' ist omnipräsent und führte bereits zu einer gewissen theoretischen Müdigkeit, sich mit ihr auseinander zu setzen.“ (2005: 43) Die wohl allgemeinste Definition, auf die sich die unterschiedlichen Disziplinen einigen könnten, betreffe schließlich die „vermehrten Verküpfungen (wirtschaftlich, sozial und kulturell) über nationale Grenzen hinweg“ (ebd.: 43).
Für viele politisch aktive Menschen der Gegenwart bedeutet der Begriff der Globalisierung aber mehr, als diese allgemeine Definition. So entwickelte sich gerade im letzten Jahrzehnt eine sogenannte globalisierungskritische Bewegung, die im Begriff der Globalisierung eine spezifische internationale politisch-ökonomische Entwicklung sieht, die schließlich von den Akteuren als eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben der Menschen auf der Welt wahrgenommen wird. Das Kernstück der sogenannten „Bewegung der Bewegungen“ (vgl. Aguiton 2001: 230) bildet dabei eine auf die Gegenwart bezogene Kapitalismuskritik (vgl. Roth 2008: 494). Vor deren Hintergrund würden nach Roth insbesondere die multinationalen Konzerne, die internationalen Finanzmärkte, sowie die einen neoliberalen Kurs verfolgenden nationalen Regierungen und internationalen Organisationen (namentlich IWF, Weltbank, WTO) angegriffen. So wird angenommen, dass mit dem Prozess der Globalisierung auch ein Prozess des grenzenlosen Kapitalismus in Gang gesetzt wurde, der die Verteilung der auf der Welt verfügbaren Ressourcen in ein Ungleichgewicht zu Gunsten der Reichen und zum Leid der ärmeren Länder versetzt. Gleichsam macht man den Prozess der Globalisierung für den Abbau von wohlfahrtstaatlichen Institutionen mit verantwortlich. „Als Feindbild gilt vielen Fundamentalkritikern das vorherrschende Meinungsbild liberalen Wirtschaftsdenkens, welches als 'Neoliberalismus' oder auch 'Marktfundamentalismus' (Soros 1998) eingestuft wird.“ (Donges, Menzel & Paulus 2003: 21)
Viele der globalisierungskritischen Gruppen formieren sich in losen Netzwerken, gehen zum Teil einzeln oder gemeinsam vor und lassen sich in den erweiterten Begriff der Nicht-Regierungsorganisationen einordnen. Dies umfasst Vereinigungen, die sich außerhalb staatlicher Gremien ohne Gewinnorientierung mit humanitären und politischen Fragen beschäftigen, also auch Kirchen und Gewerkschaften (vgl. Donges, Menzel & Paulus
2003: 10).
Es würde hier viel zu weit führen, die politischen Grundlagen der Globalisierungskritiker umfassend wiederzugeben und auch eine Diskussion dieser würde den Rahmen dieser Arbeit um ein Vielfaches sprengen. Doch soll es hier darum auch nicht gehen. Die bis hierher unternommenen Ausführungen zum Selbstverständnis der globalisierungskritischen Bewegung reichen aus, um deren internationale Dimension zu erkennen, die letztlich auch eng verknüpft ist mit dem globalisierungskritischen Reisen, das in diesem Kapitel schließlich behandelt werden soll.
Die internationale Dimension des von den Akteuren kritisierten Gegenstandes, nennen wir ihn hier den Neoliberalismus, lässt es diesen schließlich notwendig erscheinen, sich auch auf internationaler Ebene mit ihm auseinander zu setzen. So kommt es auch, dass die Organisation des Widerstands gegen die mit ihm in Verbindung gebrachten und als negativ empfundenen Auswirkungen international stattfindet (vgl. Roth 2008: 509). Es hat sich dementsprechend im letzten Jahrzehnt ein Sammelsurium von Reisedestinationen für Globalisierungskritiker entwickelt, das das Reisen als eine Notwendigkeit globalisierungskritischer Aktivität verstehen lässt. Ob „G8-Proteste“1, „Europäisches Bildungsforum“2 oder „Internationales Sozialforum“3 – die Reiseziele reichen von Malmö4 bis Istambul5, von Okinawa6 bis Evian7 oder von Heiligendamm8 bis Genua9. Wer seiner Kritik an den Missständen des Globalismus10 und des neuen Imperialismus11 Gehör verschaffen und wer Alternativen dazu erarbeiten will, muss A. dorthin reisen, wo sich die politischen Gegner und B. wo sich die politischen Verbündeten und Gleichgesinnten treffen. So geht es hier schließlich nicht darum, Einfluss auf eine einzelne politische Ordnung einer spezifischen politischen Einheit zu nehmen, sondern vielmehr um die Anpassung einer globalen politischen Entwicklung, die nach Ansicht der Akteure alle betrifft – unabhängig von Land und entsprechender Ordnung. So wird Globalisierungskritik letztlich selbst Teil der politischen Prozesse im globalen Raum und somit bestimmt durch Entgrenzung und Deterritorialisierung: sie avanciert zum global ausgerichteten Reisemotiv.
Aber auch hier besteht das Reisemotiv aus mehr, als nur der politischen Motivation der Akteure. Reisen zu G8-Gipfelprotesten (auch Gipfelhopping genannt) oder zu den Sozialforen sind immer auch verbunden mit dem Erlebnischarakter einer 'normalen' touristischen Reise. Erlebnis-, Spaß und Sensationsmomente sind für Akteure dieser spezifischen Form des politisch motivierten Tourismus maßgeblich. Der 'globalisierungskritische Erlebniskatalog' bietet somit weitaus mehr, als Protestmärsche und Kundgebungen.
Dass bereits der Weg zur Destination Erlebnisfunktion besitzen kann, zeigt ein überspitzt und satirisch formulierter Artikel von Ingo Arzt, der darin seine Erlebnisse auf einer Fahrt mit einem 'globalisierungskritischen Sonderzug' zu den G8-Protesten nach Heiligendamm des Jahres 2007 verarbeitet. Unter dem Titel „Zu wenig Bier für eine bessere Welt“ beschreibt er die Erlebniseinheiten auf der Reise wie folgt:
„Es brodelt, sozusagen. Der Tresen [im Zug] ist mittlerweile herrschaftsfreie Zone - die DB-Mitarbeiter haben sich stoisch in ein Abteil zurückgezogen. Bongo-Spieler trommeln, zwei Typen mit löchrigen Jeans tanzen dazu schamanisch, als wäre irgendwo ein Kriegsbeil vergraben. Die Frau mit dem gelben Turban hat jetzt auch gelbe Augen und tut sich schwer, auf Fragen zu antworten. Woody Allen nuckelt auf dem Boden glücklich an einem Bier. Heiner Geißler sitzt auf dem Tresen und erzählt von seiner Arbeit als Schriftsteller. Daneben FDJ-Gesang: "Der Rosa Luxemburg haben wir's geschworen. […] Improvisiertes Liedgut erklingt aus einem Abteil. Eine Menschentraube hat sich darum gebildet, der Gitarrist schrubbt Akkorde, ein geschätzter Hamburger Jung singt durch eine Flüstertüte. […] Das Lied der "Arbeiter-Einheitsfront" ertönt. Im ganzen Zug, aus den Bordlautsprechern. "
Wohl wissend, dass es sich bei dem Artikel um eine satirisch-literarische Form der Berichterstattung handelt, bleibt dennoch festzustellen, dass der Autor bei all seinen Ausführungen keine mögliche Verbindung zwischen dem Spaßcharakter der Gruppenreise und einer politischen Funktion dessen herstellt, die aber sehr wohl existiert. Denn kann gerade das spaßhafte und lustvolle Erlebnis im Zuge einer politisch motivierten Gruppenreise zur Festigung einer gemeinschaftlichen politischen Identität führen, was so sicher auch von den Organisatoren des betreffenden Sonderzuges gewollt war – zumindest lässt sich das mutmaßen. Wie bereits im Kapitel zum politischen Menschen festgestellt, ist es ausschließlich die Gruppe und nie das Individuum allein, was politische Ideen in eine politische Realität zu verwandeln vermag. Das, was John Urry unter dem 'collective gaze', dem geselligkeits- und erlebnisorientierten Blick (vgl. 1990: 45)12 versteht, wird hier dementsprechend zum Werkzeug zur Herausbildung bzw. Festigung einer politischen Gruppenidentität. Hinzu kommt, dass laut Hannah Arendt politisches Handeln mit dem spezifischen Affekt der Lust und des öffentlichen Glücks verbunden ist und untrennbar zur Revolution gehört. „Öffentliches Glück, dass man laut Arendt als wertvolle Dimension menschlicher Existenz irgendwann einmal erfahren haben sollte, entsteht nur im gemeinsamen Handeln, nicht in der individuellen Jagd nach dem privaten Glück im Kleinen.“ (Marchart 2007: 355) So gesehen ist der gemeinschaftlich erlebte Spaß während der Sonderzugreise nicht als Selbstzweck, als rein privates und damit unpolitisches Moment der Akteure zu verstehen, sondern vielmehr als Notwendigkeit zur angestrebten 'Revolution', als politische Praxis per se. „It turned out, that acting is fun.“13 (ebd.: 355)
Dass, wie Arendt zu verstehen gibt, politisches Handeln auch Spaß bedeutet, zeigen gleichsam die besonderen Protestformen, derer sich die globalisierungskritischen Touristen an den jeweiligen Reisedestinationen bedienen. Verkleiden, 'in andere Rollen schlüpfen' und 'andere Welten inszenieren' – all das gehört zum Kern des Prinzips des sogenannten „zivilen Ungehorsams“14. So versuchen die 'Protestler' über besonders kreative Handlungen im öffentlichen Raum Botschaften zu übermitteln, die deren politischen Überzeugungen entsprechen. Ziel ist dabei immer, ein sensationsgenerierendes Moment zu erzeugen, der einerseits verantwortlich ist für den Spaßaffekt der Akteure selbst, aber gleichsam dazu beiträgt, dass die Adressaten auf die transportierte politische Botschaft aufmerksam werden. So können auf nackte Haut geschriebene politische Botschaften genauso Sensationsmomente generieren, wie Transparententhüllungen in großer Höhe an den Fassaden hoch gebauter Banken. Die Sensation im Zuge einer politisch motivierten Reise wird hier ein weiteres Mal Teil des Politischen.
Es wurde bereits festgestellt, dass das im Zuge einer touristischen Reise mögliche Prinzip des „identity-switching“ auch für die Konstruktion nicht existierender politischer Welten nutzbar gemacht werden kann. So auch im Zuge der G8-Proteste in Heiligendamm. Ein großer Teil der angereisten 'Aktivisten' lebte während der Protestwoche in einem auch „Intergalactic Village“ genannten Aktionscamp, das unter dem Motto „G8 - Gute Nacht“ einen abgeschlossenen Raum erschuf, der nach anderen nicht kapitalistischen Regeln funktionieren sollte. Es entstand eine Gegenwelt, in der die 'Einwohner' des Zeltlagers Formen des gemeinsamen Umgangs übten, die sie von der realen Welt aus ihrem politischen Selbstverständnis heraus stets einfordern. So übernahm jeder Teilnehmer spezielle Aufgaben, deren Erfüllung ein 'Überleben' der neuen Gesellschaft sichern sollte. Andere, sozialere Umgangsformen wurden in eine Realität überführt und so die vermeintliche politische Utopie zu einer real existierenden Tatsache erklärt. Die touristische Prinzipien der Erschaffung von Gegenwelten und das Ausprobieren neuer Rollen und Umgangsformen wurden so zu einer politischen Praxis.
Über den sensationsgenerierenden Moment von gewaltfreien politischen Protestformen wurde weiter oben bereits geschrieben. Nun müssen aber - wenn von Protesten zu G8-Gipfeln die Rede ist - auch solche sensationsgenerierenden Momente besprochen sein, die auf physischer Gewalt basieren. Denn scheint es für einen Teil der Globalisierungskritiker notwendig, ihre politische Willensbekundung über Mittel der Gewalt zu vollziehen. Roth spricht diesbezüglich von einer „Neigung des radikalen Flügels zu Konfrontation und Gewaltanwendung“ (2008: 509). Bilder von vermummten und Steine schmeißenden sogenannten Autonomen werden, wenn die Proteste zu G8-Gipfeln medial verarbeitet werden, dementsprechend immer wieder (re-)produziert. Sie zeigen sozusagen die 'dark side' des sonst friedlichen Protests.
Und auch hierbei scheint es so, als ob das sensationelle Erlebnis verbunden mit einer von der alltagsweltlichen divergierenden Rolle des Akteurs zu sein, das Menschen dazu veranlasst, Gewalt gegen beispielsweise Polizisten und Sachen auszuüben. Unabhängig vom vielleicht zugrunde liegenden politischen Standpunkt, mit dem diese Gewalt von vielen der Akteure oft gerechtfertigt wird, kann hier also festgestellt werden, dass die Ausübung aber auch das Erfahren von Gewalt Sensationen schafft, die den Akteur aus dem Alltäglichen reißen, ihm gewissermaßen in eine Position versetzen, die die normalerweise herrschenden Machtkonstellationen in Frage stellt. Es wird eine Ur-Erfahrung erzeugt, die auch viele 'normale' Touristen im Zuge ihrer Reisen suchen: Die Regularien der Alltagswelt zu durchbrechen und authentische Erfahrungen zu sammeln. So zitiert Schwarzmeier einen gewalttätigen autonomen Demonstranten wie folgt: „Wichtig war der Tag, das Gefühl, der Mut, der Hass, die Freude. Die Hitze, die dich überflutet beim Vorwärtsstürmen, beim Flüchten, der kollektive Orgasmus, die Höhepunkte, der Spaß.“ (2001: 51)
Das Kapitel und gleichsam den ersten Hauptteil dieser Arbeit abschließend sei hier festgestellt, dass Sensationsmomente und Spaßerlebnisse als Träger politischer Kommunikation auch im Zuge der globalisierungskritischen Reise eine große Rolle zu spielen vermögen. Globalisierungskritisches Reisen kann grundsätzlich der Kategorie B2 des Akteur-Funktionsschemas zugeordnet werden, da die reisenden Akteure eine Modifizierung einer bestehenden politischen Ordnung anstreben. Diese politische Ordnung ist hier jedoch nicht auf eine einzelne politische Einheit bzw. auf einen einzelnen Nationalstaat bezogen. So richtet sich Globalisierungskritik doch immer auch gegen ein politisches Ordnungssystem, das mit der politischen Weltordnung gleichgesetzt werden kann.
Eine Überleitung zum zweiten Hauptteil dieser Arbeit scheint an dieser Stelle nicht schwer, da sich die nun folgenden Darlegungen zur Feldforchung auf Akteure beziehen, die gleichsam den in diesem Kapitel Beschriebenen der globalisierungskritischen Bewegung zuzuordnen sind. So werden spezifische Aspekte des globalisierungskritischen Reisens auch im Folgenden aufgeführt und im Zuge der nächsten Kapitel verarbeitet.
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Bild- und Literaturnachweise im PDF der Magisterarbeit:
"Politisch motivierter Tourismus: Aspekte und Dimensionen des politischen Reisens"